Donnerstag, 4. Oktober 2012

Ja, ist es denn ein Wunder?



Ich bin immer wieder fassungslos, dass in der Diskussion um zukünftige Renten bestimmte Rentenansprüche ganz selbstverständlich an die Bedingung gekoppelt werden, privat vorgesorgt zu haben! Um vom Staat eine bestimmte Leistung zu erhalten, wird man gezwungen, die Privatwirtschaft zu bereichern. Ingo Schulze schreibt in seinem Essay „Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie -- für demokratiekonforme Märkte“ (Hanser 2012): „Kann eine private Versicherung, die per se verpflichtet ist, Gewinne zu machen, überhaupt im Interesse der Versicherten sein?“


Warum ist (meines Wissens) noch nie darüber diskutiert worden, einen zusätzlichen, staatlichen Rentenfonds einzurichten? Stattdessen zahlt der Staat Bestechungsgeld dafür, dass seine Bürger ihr Geld zu privaten Versicherern mit dem Nachnamen Riester tragen.
Ich weiß, ich sollte meine Fassung behalten oder sie längst endgültig verloren haben, denn es handelt sich nur um ein Mosaiksteinchen in der angestrebten Privatisierung so ziemlich aller Lebensbereiche, die da wären: Krankenversicherung, Rentenversicherung, alle erdenklichen sonstigen Versicherungen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Medien, Bibliotheken, Kulturveranstaltungen und -institutionen, Kulturförderung, Forschung, Transportwesen (Bahn, Bus, Flugzeug), Plätze, Straßen, Strände, Seen, Armeen, Nachtwächter und andere Sicherheitsleute, Grenzsicherung (auch: der europäische Schutzwall gegen Flüchtlinge genannt), habe ich was vergessen?

Gemeinwohl geht über Privatwohl? Das Private ist politisch? Heutzutage wird die Politik privatisiert. Und zwar in großem Maße, denn die derzeitige Politik in Europa läuft unter dem Deckmantel der „Sachzwänge“ darauf hinaus, die Staaten so handlungsunfähig zu machen, dass sie klein beigeben und nur noch, ja was? Organisatoren von freien Wahlen sind? Und damit den Beweis erbringen, dass es sich noch um Demokratien handelt?

 „Ja, ist es denn ein Wunder?“ sang Nina Hagen, und nein, es ist kein Wunder, denn diejenigen, die in Sachen Europapolitik die Entscheidungsmacht haben, brauchen ja irrwitziger Weise keinen Staat (oder denken, sie brauchen ihn nicht): Sie sind zumeist wohlhabend genug, um ihre Kinder in private Schulen, in privaten Musik-, Schwimm-, sonstigen Sportunterricht zu schicken, genug, um sich in allen Bereichen privat zu versichern, um sich Bücher zu kaufen und teure Tickets für Kulturveranstaltungen zu leisten, um Taxi zu fahren und in Privatjets zu reisen, sich Wassergrundstücke zu kaufen, die sie hinter hohen Zäunen verbergen … habe ich was vergessen?

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